Kann ein Bußgeldbescheid einem Deutschen direkt per Post zugestellt werden? Entscheidung des Vereinigten Senats des Kassationsgerichtshofs Nr. 11550/22 | Petrocchi&Partners

Kann ein Bußgeldbescheid einem Deutschen direkt per Post zugestellt werden?
Entscheidung des Vereinigten Senats des Kassationsgerichtshofs Nr. 11550/22

Am 5. April 2022 hat der Vereinigte Senat des italienischen Kassationsgerichtshofs erneut über bestehende Fragen im Zusammenhang mit der Rechtsgrundlage und Folgen der Nichtigkeit bei der Zustellung eines Bußgeldbescheids an einen deutschen Staatsangehörigen entschieden. Der neue Rechtsgrundsatz überrascht.

Funktion der Vereinigten Senate des Kassationsgerichtshofs

Der Kassationsgerichtshof (italienisch: Corte di Cassazione) ist die höchste gerichtliche Instanz in Italien. Die letztinstanzlichen Entscheidungen des Kassationsgerichtshofs sollen die genaue Einhaltung und einheitliche Auslegung von Rechtsnormen im nationalen Hoheitsgebiet in Zivil- und Strafsachen gewährleisten (sogenannte nomofilaktische Funktion). Für eine solche einheitliche Auslegung kann der Kassationsgerichtshof in bestimmten Fällen in der als Vereinigter Senat definierten Zusammensetzung entscheiden. Im italienischen Rechtssystem ist der Vereinigte Senat die höchste Einheit des Kassationsgerichtshofs. Wenn es notwendig ist, Streitigkeiten zwischen den Entscheidungen der einfachen Senate zu schlichten oder wenn die vorgelegten Fragen von besonderer Bedeutung sind, können die Vereinigten Senate angerufen werden. Darüber hinaus kann ein einfacher Senat eine Rechtssache an die Vereinigten Senate verweisen, wenn er feststellt, dass die von ihm zu prüfende Rechtsfrage einen Rechtskonflikt hervorruft oder hervorrufen kann. Die Vereinigten Senate müssen dann entscheiden, welche der beiden oder mehreren gegensätzlichen Auslegungen des Rechts die beste ist, oder sie können einen anderen „Rechtsgrundsatz“ vorschlagen.

Streitgegenständliche zugrundeliegende Regelungen

Die streitgegenständlichen Regelungen, deren Anwendbarkeit zuvor zu gegenteiligen Bewertungen bei der Zustellung von Bußgeldbescheiden geführt hatten, sind die Folgenden:
(a) Das Straßburger Übereinkommen vom 24. November 1977 und die Zustellung durch die Post an deutsche Staatsangehörige: Das Straßburger Übereinkommen, das in Italien durch das Gesetz Nr. 149/1983 ratifiziert wurde, legt die Regeln für die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen fest. Grundsätzlich sieht es die Möglichkeit einer unmittelbaren Zustellung von Dokumenten, wie etwa von Bußgeldbescheiden, per Post vor. Artikel 11 des Gesetzes Nr. 149/1983 besagt: „Jeder Vertragsstaat ist berechtigt, Personen im Hoheitsgebiet anderer Vertragsstaaten Schriftstücke unmittelbar durch die Post zustellen zu lassen“.

Etwas anderes gilt jedoch für Deutschland: Deutschland nämlich hat von der Möglichkeit einer Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht und diese Form der Zustellung für seine ansässigen Bürger ausgeschlossen. Dies bedeutet, dass die Zustellung eines Bescheids an einen deutschen Staatsangehörigen mit Unterstützung der zentralen Behörde des Wohnsitz- und des Bestimmungsstaats erfolgen muss (Artikel 2).

(b) Die Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 schließt die Zustellung von Verwaltungsdokumenten durch die Post aus, erlaubt sie jedoch für gerichtliche und außergerichtliche Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen. Ausgeschlossen ist die Anwendung der Verordnung – gemäß Artikel 1 – für Steuer-, Zoll- und Verwaltungssachen sowie für die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Gewalt („acta iure imperii“). Maßgeblich ist dabei, ob es sich bei dem Bescheid etwa über einen Verkehrsverstoß um einen Verwaltungsakt oder um einen Zivil- oder Handelsakt handelt; bei ersterem muss die zentrale Behörde des Wohnsitzstaates des Bürgers um Unterstützung ersucht werden.

Der aktuelle Fall und die ersten Bewertungen der Gerichte
Der Fall:

Ein deutscher Staatsangehöriger fuhr in Florenz ohne Genehmigung durch eine Verkehrsbeschränkungszone. Er wurde per Einschreiben von der Stadtpolizei Florenz über den Verstoß wegen unerlaubten Fahrens in einer verkehrsberuhigten Zone informiert. Gegen den Bußgeldbescheid legte er Widerspruch vor dem Friedensrichter von Florenz ein. Der Widerspruch wurde auf verschiedene Gründe gestützt; darunter, dass der Bescheid nichtig sei, weil er nicht zugestellt worden sei.

Das erstinstanzliche Gericht wies die Klage ab. Das Gericht zweiter Instanz erklärte mit Urteil vom 14. Juli 2015 (Nr. 2587/2015) die Berufung für unzulässig: Mit dieser Entscheidung stellte der Richter fest, dass, selbst wenn die Zustellungsformalitäten verletzt worden wären, dies einen Nichtigkeitsgrund und nicht einen Grund für das Nichtbestehen eines Bescheids darstellen würde, mit der Folge, dass der Widerspruch das Bußgeld mit Heilung des nicht ordnungsgemäßen Zustellungsverfahrens retten würde.
Andere Urteile des Kassationsgerichtshofs (zum Beispiel Kassationsgerichtshof Nr. 22000/2018) werteten die Zustellung eines Bußgeldbescheids per Post an einen deutschen Staatsbürger als zulässig und dabei die Verordnung Nr. 1393/2007 für anwendbar.

Entscheidung des Vereinigten Senats des Kassationsgerichtshofs Nr. 2866/2021 vom 5. Februar 2021 (Klage der Anwaltssozietät Petrocchi & Partner)

Die dem Vereinigten Senat zur Entscheidung am 3. November 2020 vorgelegten Fragen lauteten: Ist im vorliegenden Fall (a) das Straßburger Übereinkommen über die Zustellung im Ausland in Verwaltungssachen oder (b) die Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten anwendbar? Weitere Fragen waren die Bedeutung des Begriffs „Verwaltungssachen“ im Zusammenhang mit der Zustellung eines Bescheids, insbesondere von Schriftstücken über einen Verkehrsverstoß, an eine Person, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union (konkret in Deutschland) hat; sowie, ob die Zustellung eines Bescheids über einen Verkehrsverstoß durch die Post an einen deutschen Staatsangehörigen nichtig ist (und geheilt werden kann) oder nicht existiert (und damit nicht geheilt werden kann).

Nach Ansicht des Vereinigten Senats „fällt die Mitteilung über Verkehrsverstöße als ein Akt der Ausübung öffentlicher Befugnisse in den Bereich der Verwaltung, und als solcher fällt die Zustellung des Rechtsmittels eindeutig nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1393/2007, da sie nicht in den Bereich der Zivil- oder Handelssachen fällt (und es ist nicht einmal möglich, den „außergerichtlichen“ Charakter der Zustellung der Mitteilung festzustellen)“.

Zusammenfassend hat der Vereinigte Senat des Kassationsgerichtshofs mit Urteil Nr. 2866/2021 entschieden, dass die Zustellung einer Geldstrafe an einen deutschen Staatsbürger nicht unmittelbar durch die Post erfolgen kann. Eine unter Verstoß gegen das Straßburger Übereinkommen erfolgte Zustellung führt nicht zu ihrem Nichtbestehen, sondern ist nichtig und heilbar.
Bei einem nicht rechtzeitigen Rechtsmittel könnte also noch Abhilfe geschaffen werden. So etwa im vorliegenden Fall, indem die Nichtigkeit durch die „Verspätung des Rechtsmittels im Hinblick auf die tatsächliche Kenntnis der mitgeteilten Meldung und die nicht rechtzeitige Anfechtung mit der daraus folgenden fehlenden Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels gegen die Nichtigkeit des Bescheids“ geheilt wurde. Dabei ist die Nichtigkeit nach dem Recht des Staates zu prüfen, von dem aus die Zustellung erfolgt, also nach italienischem Recht.
In diesem Sinne kann die Zustellung, auf die sich der vom Gerichtshof untersuchte Fall bezieht, nur dann als nichtig mit entsprechender Heilung angesehen werden, wenn keine rechtzeitige spezifische Ausnahme von der Nichtigkeit vorliegt.

Entscheidung des Vereinigten Senats des Kassationsgerichtshofs Nr. 11550/22 vom 5.-8. April 2022 (Klage der Anwaltssozietät Petrocchi & Partner)
Nun, vom 5.-8. April 2022, hat der Vereinigte Senat überraschend umgekehrt entschieden: wenn das Rechtsmittel zu spät eingereicht wird, wird die Nichtigkeit der Zustellung des Bescheids an einen deutschen Staatsbürger nicht geheilt. Wesentliche Bedeutung erhält die Entscheidung folglich zu der Frage, ob die Heilung einer vorliegenden Nichtigkeit etwa nur dann – und damit im Gegensatz zu vorheriger Bewertung – möglich ist, wenn ein Rechtsmittel rechtzeitig gegen das zugestellte Schriftstück eingelegt wurde. Die Antwortet lautet: Ja.

Zunächst bestätigt der Vereinigte Senat und stellt klar, dass die Verordnung Nr. 1393/2007 nicht auf die Zustellung eines Bußgeldbescheids an eine in einem anderen EU-Mitgliedsstaat ansässige Person anwendbar ist, da Artikel 1 ihre Anwendung auf Verwaltungsangelegenheiten ausdrücklich ausschließt. Aufgrund der von Deutschland geltend gemachten Ausnahmeregelung kann eine Zustellung gegenüber einem deutschen Staatsangehörigen insbesondere auch nicht nach Artikel 11 des Straßburger Übereinkommens oder unmittelbar durch die Post erfolgen. Notwendig ist eine Zustellung mittels einer zentralen Behörde des Wohnsitzstaats (vgl. Artikel 2). In der Folge ist die von der Gemeinde Florenz auf dem Postweg vorgenommene Zustellung ohne Beteiligung einer deutschen Behörde nichtig.

Im Hinblick auf die zuvor ergangene, oben ausgeführte Rechtsprechung (Urteil Nr. 2866/2021) korrigiert der Vereinigte Senat allerdings seinen Rechtsgrundsatz und akzeptiert die Auslegung des Zweiten Zivilsenats des Kassationsgerichtshofs (Nr. 25558/2021), indem er nun feststellt, dass die Nichtigkeit der Zustellung des Bußgeldbescheids „zur Erreichung des Zwecks gemäß Artikel 156 (Absatz 3) der (italienischen) Zivilprozessordnung nur durch die Einlegung eines rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Rechtsmittels geheilt werden kann“. Dabei stellt der Vereinigte Senat in seiner Argumentation auf den Zweck ab: die Vorbereitung der eigenen Verteidigung des Bescheidadressaten. Die Nichtigkeit der Zustellung eines Bußgeldbescheids kann also nur „durch die rechtzeitige Einlegung eines Rechtsmittels geheilt werden“.

Zusammengefasst
Die Zustellung eines Bußgeldbescheids an einen deutschen Staatsangehörigen kann nicht unmittelbar durch die Post erfolgen. Die Zustellung eines solchen Schriftstücks an einen deutschen Staatsangehörigen ohne die vorgesehene (Art. 2 des Straßburger Übereinkommens) Beteiligung der zentralen Behörde des Wohnsitz- und des Bestimmungsstaates hat die Nichtigkeit der Zustellung zur Folge. Allerdings kann diese mit einem rechtzeitigen Rechtsmittel gegen den Bußgeldbescheid vor dem zuständigen Gericht geheilt werden.

Scroll to Top